Rede von Olaf Wunder (MOPO-Chefredporter) auf der Kundgebung am 19. Juli 2023:
„Mit diesem x Drx Koffer fing alles an. Der Koffer eines L. Bermann, geboren 26.12.1886, wohnhaft in Hamburg.
Diesen Koffer sah ich, als ich vor 15 Jahren die KZ Gedenkstätte Auschwitz besuchte. Vielleicht waren Sie auch schon da. Dann kennen Sie diesen Raum bestimmt: Den Raum, in dem Hunderte von Koffern Ermordeter aufbewahrt werden.
Als Hamburger Journalist hat mich dieser Hamburger Koffer. Er hat meinen Ehrgeiz geweckt. Ich wollte die Geschichte dieses Koffers erzählen, die Geschichte des Menschen, der ihn während seiner Deportation in den Tod tragen musste.
Zurück in Hamburg habe ich dann die Fährte aufgenommen, habe etliche Archive besucht und Zeitzeugen befragt – und nach und nach breitete sich vor mir das Leben von L. Bermann aus.
Ludwig Louis Bermann wurde 1886 in Schildberg, einer Kreisstadt in Posen als Sohn des Kaufmanns Benjamin Bermann geboren. Wie sein Vater ergriff auch er den Beruf des Kaufmanns. Er war Geschäftsreisender und Vertreter für Herren- und Damen-Konfektion, für Stoffe und Schneidereibedarf. Er bereiste das Rheinland, Westfalen, Berlin und Hamburg. Er hatte einenWagen mit eigenem Chauffeur.
Ludwig Bermann heiratete 1912 in Hagen Adele Lina Luise Prein, die nicht Jüdin war, sondern Mitglied der evangelisch-lutherischen Kirche war. Bekannt ist, dass nicht alle in der Familie der Braut begeistert davon waren, dass sie einen Juden heiratete.
Im April 1934 zog die Familie nach Hamburg um. Wir wissen nicht genau, warum. Möglicherweise hoffte er, als Jude in einer großen Stadt mit großer jüdischer Gemeinde nicht so sehr aufzufallen. Denn die Nazis fingen an, den Juden im Land das Leben immer schwerer zu machen.
Aber auch in Hamburg fanden die Bermanns keine einfachen Existenzbedingungen vor: Seine Einnahmen gingen wegen gezielter staatlicher Behinderungen zurück. Ehefrau Adele Bermannstarb im Mai 1935 im Universitäts-Krankenhaus Hamburg-Eppendorf an Nierenversagen. Aufgrund des Todes seiner Ehefrau wurde Ludwig Louis Bermann nicht der Status einer „privilegierten Mischehe“ zugebilligt, der ihn von gravierenden Maßnahmen ausgenommen hätte. Einen gewissen Schutz bot ihm nun nur noch die Erziehung seiner minderjährigen Tochter; mit deren Volljährigkeit am 15. Juli 1941 drohte Ludwig Louis Bermannnun die Zwangsverpflichtung zu Arbeitseinsätzen und danach die Deportation.
Freunde Bermanns redeten auf ihn, er solle das Land verlassen, so lange das noch möglich ist. Aber er weigerte sich.
Im Zuge des Novemberpogroms 1938 wurde Ludwig Louis Bermann in das KZ Sachsenhausen verschleppt und am 6. Dezember 1938 mit der Auflage entlassen, über die Vorgänge im Lager Stillschweigen zu bewahren. Seine Berufstätigkeit hatte Bermann zum 30. September 1938 notgedrungen aufgegeben, da die Firmen, für die er als Handelsvertreter Waren verkaufte, entweder selbst boykottiert wurden oder den Kontrakt mit ihm kündigten. Die „Verordnung zur Durchführung der Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 23. November 1938 untersagte Ludwig Louis Bermann endgültig eine Fortsetzung seiner Berufstätigkeit.
Bei dem „Gummi-Berufsschuhwerk-Großvertrieb Rasch & Jung“ (Große Bleichen 31) wurde Ludwig Louis Bermann als Lagerarbeiter in einer „jüdischen Kolonne“ eingesetzt. Das Be- und Entladen von Waggons und Schiffen sowie das Stapeln von Kollis (Stückgut) war eine körperlich anstrengende Arbeit.
Ab dem 19. September 1941 war Bermann zum Tragen eines gelben Judensterns gezwungen; Ende Oktober 1941 begannen die Deportationen. Als ehemals in Mischehe lebend wurde Ludwig Louis Bermann zunächst noch zurückgestellt, bis die Transporte in das sogenannte „Vorzugslager“ begannen, das Getto Theresienstadt. Am 19. Juli 1942, also vor 81 Jahren, wurde Ludwig Louis Bermann – damals 55 Jahre alt – mit dem Transport VI/2 deportiert. Einen Koffer mit maximal 50 kg. Gewicht durfte er mitnehmen. Diesen hier.
Von Theresienstadt wurde er nach 27 Monaten am 28. Oktober 1944 ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Er wurde unmittelbar nach seiner Ankunft in die Gaskammer geschickt. Das Amtsgericht Hamburg erklärte ihn 1957 nachträglich auf den 8. Mai 1945 für tot.
Seine drei „halbjüdischen“ Kinder, ein Sohn, zwei Töchter, überlebten die NS-Zeit. Aber zu dem Zeitpunkt, als ich die Geschichte ihres Vaters recherchierte, waren sie längst tot. Ich konnte sie nicht mehr befragen.
Am Leben war nur noch Saima, die Witwe von Sohn Rudi Bermann, lebte. Sie erzählte mir die Geschichte ihres Schwiegervaters. Wir freundeten uns an. Die letzten acht Jahre ihres Lebenbegleitete ich sie, war fast jeden Tag bei ihr. Sie ist so etwas wie meine zweite Mutter geworden. Am Ende, als sie gesundheitlich nicht mehr alleine entscheiden konnte, war ich ihr Betreuer.Am 1. Juli 2017 ist sie gestorben.
Das einzige, was geblieben ist von Rudi Bermann, ist der Koffer, der Koffer in Auschwitz.“
In der Ansprache heißt es: „ Das einzige, was geblieben ist von Rudi Bermann, ist der Koffer, der Koffer in Auschwitz.“
6 Millionen ermordete Vorfahren waren einst Verwandte, Freunde, Nachbarn und Arbeitskollegen . Dank außergewöhnlicher Menschen wie Olaf Wunder ist mehr geblieben: Rudi Bermann erhält seine Würde, den Respekt und seine Biografie zurück.