Der 19. Juli 1942 war ein Sonntag, ein schöner, warmer Sommertag. 8h morgens. Es war Krieg, im 4. Jahr. Doch die schwersten Zerstörungen standen Hamburg noch bevor.
Zu dieser frühen Uhrzeit waren sicher noch nicht so viele Hamburgerinnen und Hamburger unterwegs. Vielleicht einige Frühaufsteher, die zu einem Sonntagsausflug aufbrachen. Andere standen vielleicht für ihre Frühstücksbrötchen an.
Also alles in allem ein recht unbeschwerter Tagesbeginn – jedenfalls für die nicht-jüdischen Bewohner*innen des Viertels.
Ganz anders erging es den 801 Hamburger*innen, die sich zu eben dieser Zeit auf Befehl der Gestapo in dem Gebäude hier einzufinden hatten. Unter ihnen waren Dr. Alberto Jonas, der letzte Schulleiter der jüdischen Schule Hamburgs, seine Frau, ihre Tochter Esther, 18 Jahre, der Hausmeister der Schule mit seiner Familie, 13 Schulkinder, das Lehrerehepaar Clara und Walter Bacher und hunderte andere.
Rückblick.
Walter Bacher, 1893 in Halle geboren, jüdische Eltern, aber schon kurz nach der Geburt protestantisch getauft. Freiwilliger des I. Weltkriegs, verwundet. Gleich nach Kriegsende nahm er sein Studium wieder auf, trat in die sozialdemokratische Partei ein, engagierte sich in der Gewerkschaft und der sozialistischen Arbeiterjugend.
In den Krisen der Nachkriegszeit war es schwer für einen angehenden Lehrer eine Anstellung zu finden. Aber 1927 wurde er endlich Studienrat an der Klosterschule, damals hinter dem Atlantic-Hotel gelegen, der ersten Höheren Mädchenbildungsanstalt Hamburgs. Mit großem Enthusiasmus warf er sich in die pädagogische Arbeit, wurde Klassenlehrer einer Obertertia, unterrichtete Deutsch, Latein, Griechisch und Geschichte und betätigte sich schulpolitisch.
Doch nur 6 Jahre später war es damit abrupt vorbei.
Am 2. Juni 1933 findet sich im sog. „Ausgangsjournal“ der Klosterschule, meiner Schule, das ich 1993 noch im Archivkeller entdeckte, zwischen den registrierten Postsachen ein unauffälliger Hinweis: “Vorschlag für die Vertretung des beurlaubten Dr. Bacher“.
Zum Schuljahresende wurde er offiziell aus dem Schuldienst entlassen – wie alle jüdischen Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland. Es folgten Jahre der Arbeitslosigkeit, obwohl er sich noch im selben Sommer an der Talmud Tora Schule am Grindel beworben hatte.
Seine Frau Clara geb. Haurwitz, wie er aus jüdischem Elternhaus, protestantisch getauft, Sozialdemokratin, erging es ähnlich wie ihm: sie hatte nur für wenige Jahre Arbeit an einer kleinen Privatschule gefunden. Danach suchte sie vergeblich nach einer Anstellung.
Walter Bacher hielt seine Frau, seine kranke Mutter und sich selbst mit einer reduzierten Pension von 183,- Reichsmark und abendlichen Vorträgen über Wasser.
Schließlich wurde er doch noch Lehrer an der Talmud Tora Schule und dann – nach der Zusammenlegung der jüdischen Knaben- und Mädchenschule – im Gebäude der Israelitischen Töchterschule in der Karolinenstraße.
Sein Schulleiter, der schon erwähnte Alberto Jonas, war des Lobes voll über diesen hochmotivierten, unermüdlichen Lehrer: “Sein großes Wissen, sein fesselnder Vortrag, insbesondere seine liebenswürdige und kameradschaftliche Stellung zu seinen Schülern sind die Ursache für seine pädagogischen Erfolge“ (S. 59) heißt es in einem Gutachten für die Schulbehörde.
Er unterrichtete seine Schüler*innen noch nach dem Umzug in die letzte Heimstätte, das jüdische Waisenhaus am Papendamm, bis zum bitteren Ende: am 30. Juni 1942 endete im gesamten deutschen Reich der Schulunterricht für jüdische Mädchen und Jungen.
Drei Monate vorher hatte die Schulbehörde, die ein begehrliches Auge auf das Gebäude an der Karolinenstraße geworfen hatte, noch einen Versuch gemacht, die jüdische Schule anderweitig unterzubringen. Da es an dieser Schule hier noch freie Räume gab, richtete sie eine Anfrage an die Schulleiterin, Emma Lange, NSDAP-Mitglied.
Diese lehnte ab: „Der unbestreitbar gute Ruf der alten Mädchenvolksschule Schanzenstraße würde mit einem Schlage schwer gefährdet werden, wenn jüdische Kinder untergebracht würden.“ Pekuniär besser gestellte Eltern, im besonderen die Parteigenossen würden ihre Kinder umgehend an benachbarte Schulen ummelden. Auch im Luftschutzkeller müsste das “enge Zusammensein arischer Personen mit jüdischen Kindern als unhaltbar abgelehnt werden.“
Wenige Wochen später, am 19. Juli, musste sich Dr. Bacher dennoch hier einfinden – wenn auch nicht mehr als Lehrer, sondern als diskriminierter Verfolgter: die Schule – übrigens die einzige in ganz Hamburg – wurde Sammelstelle für die Deportationen in die Lager des Ostens.
An einem – wie gesagt – sonnigen Sonntagmorgen. Er und sein Frau Clara, jeder mit dem erlaubten Koffer und etwas Handgepäck.
Stundenlange Überprüfung von Papieren und Habseligkeiten, bis sie schließlich – mit der Bahn? Mit dem LKW? – zum Deportationsbahnhof in der heutigen Hafencity gebracht wurden, wo es nun endlich einen Gedenkort mit den Namen aller über 8.000 von dort Weggeschafften gibt.
Der Zielort: Theresienstadt, eine Festungs- und Kasernenstadt nicht weit von Prag, wo die ankommenden Paare und Familien auseinander gerissen und auf elende Massenquartiere verteilt wurden. Hunger, Krankheiten, Schmutz, Ungeziefer forderten täglich viele Opfer.
Ich habe dennoch Beweise dafür gefunden, dass sich Walter Bacher an dem intensiven, anspruchsvollen Kulturleben der Gefangenengemeinschaft beteiligte: 18 Vorträge von ihm sind zwischen Dezember 1942 und August 1944 aufgelistet.
Aber Theresienstadt war kein sicherer Ort. Während der 5 Jahre seines Bestehens als Ghetto und KZ rollten die Züge Richtung Auschwitz. Im Herbst 1944 wurde es mit einer Serie von 11 aufeinanderfolgenden Transporten fast vollständig geleert.
Walter Bacher traf es am 30. September. Nur 76 – ausschließlich tschechische – Männer seines Konvois überlebten. 9 Tage später traf seine Frau Clara an der Rampe von Auschwitz ein. Auch hier gab es nur 76 Überlebende, alle waren tschechischer Nationalität.
So weit zu den Lebenswegen von Walter und Clara Bacher. Er wurde 51 Jahre alt, sie 45.
Das riesengroße Unrecht, das ihnen und all‘ den anderen Deportierten, Verfolgten und Ermordeten im und durch den Nationalsozialismus angetan wurde, verpflichtet uns auf ewig, an sie zu erinnern und uns mit ihnen zu beschäftigen und zu verbinden.
Aber genauso wichtig, ja notwendig ist es, finde ich, dass wir uns fragen: Sagen ihr Schicksal und ihre Lebensumstände uns möglicherweise auch etwas über unsere Gegenwart?
Darum lade ich Sie und euch ein, noch einmal auf die 6 Jahre zurückzukommen, die Walter Bacher wischen 1927 und 1933 an der Klosterschule verbracht hat. Es war sicher der stabilste, glücklichste und erfüllteste Abschnitt in seinem Leben.
Und zugleich waren es die letzten 6 Jahre der Weimarer Republik.
Am Ende dieses Abschnitts hatten sich die Nazis an die Macht katapultiert und Walter Bacher stand vor dem beruflichen Aus.
Ich hatte das Glück, noch 2 alte Damen interviewen zu können, die in diesen 6 Jahren seine Schülerinnen gewesen waren und sich seiner lebhaft, ja begeistert erinnerten – an seinen lebendigen Unterricht, an die vielen Wandertage, an die Klassenreise an Rhein und Mosel auf den Spuren der Römer…All die Jahrzehnte über hatten sie eine Handvoll Fotos aufbewahrt, die sie mit ihrem Klassenlehrer beim Unterricht im Freien oder bei Ausflügen in die Umgebung Hamburgs zeigten.
Walter Bacher war ein überaus beliebter Lehrer. Er engagierte sich vielfältig, gewerkschaftlich, politisch, bei den Pfadfindern, bei der sozialistischen Arbeiterjugend. Er war ein fortschrittlicher, anerkannter Pädagoge und respektierter Kollege in der Lehrerschaft der Klosterschule.
Und doch geschah in diesen 6 Jahren parallel etwas Unbehagliches, Bedrohliches; es vollzog sich schleichend und oft nur im Rückblick erkennbar, ein Prozess, der schließlich zu seinem Rauswurf führte, aber in dem sich auch die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen seiner Zeit spiegeln.
Denn das Lehrerkollegium der Klosterschule war, wie die meisten öffentlichen Gremien, gespalten in konservative, kaisertreue und nationalistisch gesinnte Kreise und andere, die sich der jungen Weimarer Demokratie zugehörig fühlten. Es gab Konflikte und Intrigen. 1931 musste Walter Bacher überraschend seine Klasse abgeben. Über die Gründe wurde nur gemunkelt. Angeblich waren auch Eltern beteiligt. Einige unterstellten ihm, dass er im Griechischunterricht über die Odyssee besonders gerne schlüpfrige Stellen zitierte. Es fielen Kommentare wie „typisch jüdisch“. Er, für den seine jüdische Herkunft nie eine Rolle gespielt hatte, wurde plötzlich als „der Jude“ tituliert. Seine Arbeitsgemeinschaften im Fach Geschichte, die vorher überfüllt gewesen waren, hatten immer weniger Zulauf.
1929 war Erwin Gottsleben als Biologie- und Chemielehrer an die Klosterschule gekommen; groß, schlank, blauäugig, SA-Mann. Er unterrichtete in Uniform und war der Prototyp der neuen Zeit. Nun war er es, dem viele Herzen zuflogen.
In einem ganz anderen Zusammenhang fand ich im Staatsarchiv zufällig einen Brief, den der Zeichenlehrer Heinrich Hehn 1934 an den NS-Kultursenator Allwörden geschickt hatte. Er prahlte darin, dass die Klosterschule die „älteste nationalsozialistische Zelle an den höheren Schulen Hamburgs überhaupt“ besessen hätte. Und er nennt auch die Namen. Vier dieser Herren unterrichteten, wie ich den Abiturzeugnissen entnehmen konnte, in Dr. Bachers Klasse.
In seiner Bewerbung an der Talmud Tora Schule im August 1933 schrieb Walter Bacher: “Am 26.5. wurde er auf Drängen antisemitischer Kollegen beurlaubt. Nach neunwöchiger Wartezeit, in der es ihm trotz mehrfacher Eingaben nicht gelang, gehört zu werden oder die Gründe für die plötzliche Beurlaubung zu erfahren, erfolgte unter dem 29. Juli seine Entlassung“.
Der Antisemitismus, der schon in der Kaiserzeit gesellschaftsfähig gewesen war, hatte sich mit dem Erstarken nationalistischer und faschistischer Überzeugungen und Interessen mehr und mehr in den Köpfen und Herzen der Menschen eingenistet. Als die Nazis – gerade mal 9 Wochen an der Macht – mit Hilfe eines Gesetzes alle Jüdinnen und Juden – auch die sog. Halbjuden – aus den deutschen Ämtern, Schulen und Universitäten verjagten, waren nicht nur Zehntausende ganz normaler, bürgerlicher Existenzen vernichtet. Es rührte sich auch kaum Widerstand dagegen. Der Antisemitismus hatte die Oberhand gewonnen und war Teil der Staatsdoktrin geworden. Aber er fiel auf fruchtbaren, vorbereiteten Boden.
Das sollte uns heute hellhörig und widerständig machen!