Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.“
Mit diesen Worten bringt der US-amerikanischen Schriftsteller William Faulkner zum Ausdruck, dass das Vergangene nichts ist, was wir abhaken, weglegen können. Wir leben mit der Vergangenheit, sie ist Teil von uns, prägt uns, auch dann, wenn wir uns dessen nicht bewusst sind.
Wir sind heute hier, weil wir uns die Vergangenheit als Teil unseres Lebens, der Geschichte unserer Gesellschaft, immer wieder bewusst machen. Hier, an diesem Ort, heute, am Jahrestag des Novemberpogroms von 1938, ist die Vergangenheit lebendig. Wir gedenken des furchtbarsten Menschheitsverbrechens, des Völkermords an den europäischen Jüdinnen und Juden durch das faschistische Deutsche Reich.
Mit der Machtübertragung an die Nazis nahm die jahrhundertelange Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung neue Dimensionen an. Ab 1933 wurde sie systematisch politisch, sozial, wirtschaftlich, kulturell aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Das traf auch die rund 19.000 Hamburger Jüdinnen und Juden. Sie verloren erst ihr Stimmrecht, dann ihre Staatsbürgerschaft. Eheschließungen und außereheliche Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden wurden unter Strafe gestellt. Mit dem sogenannten Arierparagraf wurden Berufsverbote und andere Diskriminierungen Alltag. Jüdische Geschäfte wurden boykottiert, jüdische Geschäftsleute schikaniert. Juden wurden aus Vereinen, dem öffentlichen Leben, vom Theaterbesuchausgeschlossen, jüdische Schüler:innen und Lehrer:innenzunehmend aus den Schulen verdrängt.
Innerhalb weniger Jahre hat die Herrschaft der Nazis, aktiv unterstützt oder passiv hingenommen durch erhebliche Teile der Mehrheitsgesellschaft, alle Erfolge eines langen jüdischen Emanzipationskampfes zunichte gemacht.
Gewalttätige Übergriffe auf jüdische Mitmenschen waren an der Tagesordnung und blieben ungesühnt. Im Herbst 1938 aber nahm die Gewalt einen anderen Charakter an. Ende Oktober wurden wie überall im Deutschen Reich auch in Hamburg im polnische Jüdinnen und Juden, die z.T. seit Jahrzehnten hier lebten – rund 1000 -, aus ihren Wohnungen geholt und nach Polen deportiert. Unter ihnen einige Fußminuten von hier aus der Bartelsstraße die Familie Frenkel sowie die 19-jährige Ilse Sambor, deren Eltern und sieben in Hamburg geborene Geschwister 1941 deportiert wurden. Von den fünf Deportierten aus der Bartelsstraße überlebte nur einer, Pinkus Frenkel, die anderen wurden im besetzten Polen ermordet, wie die allermeisten der reichsweit 17.000 deportierten polnischen Jüdinnen und Juden.
In der Bartelsstraße, um das zu ergänzen, finden sich heute insgesamt 23 Stolpersteine, die an ermordete Jüdinnen und Juden erinnern oder an Menschen, die keinen anderen Ausweg als den Suizid sahen, auch an jemanden, der, wegen seiner Homosexualität inhaftiert, das Gefängnis nicht überlebt hat.Können wir uns das wirklich vorstellen: 23 Menschen aus einer einzigen kleinen Straße wurden unter den Augen ihrer Nachbar:innen abgeholt, die meisten 1941, um deportiert und ermordet zu werden? –
Und dann, nur wenige Tage nach der Deportation der polnischen Jüd:innen, das Novemberpogrom, ein reichsweiter, vom Parteiapparat der NSDAP zentral gelenkter, von SA, SS und Hitlerjugend durchgeführter und als „spontaner Volkszorn“ inszenierter Gewaltausbruch. Auch in Hamburg traf der Terror die jüdischen Bevölkerung. Wurden jüdische Menschen zusammengeschlagen, aus ihren Wohnungen und Geschäften gezerrt, gedemütigt. Wurde brandgeschatzt, jüdisches Eigentum zerstört, geplündert. Wurden Synagogen angegriffen und andere jüdische religiöse Einrichtungen.Wurden über 1000 jüdische Hamburger:innen in Konzentrationslager in Fuhlsbüttel oder Sachsenhausen verschleppt. Reichsweit wurden 30.000 Menschen ins KZ verschleppt, kamen infolge des Novemberpogrom über 1.300 zu Tode, darunter auch ein Mensch in Hamburg, der auf der Flucht vor seinen Verfolgern aus dem Fenster sprang.
Und die Mehrheitsgesellschaft? Abgesehen von den organisierten Nazis beteiligten sich nur wenige Bürger:innenan dem Pogrom. Etliche versicherten den betroffenen jüdischen Nachbarn und Freunden ihr Mitgefühl. Andere murrten. Einige Tage war die Naziführung aufgrund eines spürbaren Unmuts verunsichert. Aber nur wenige Mutige stellten sich den Brandstiftern, Gewalttätern und Mördern in den Weg. Die Passivität der Allermeisten signalisierte den Nazis, dass sie bei weitergehenden Maßnahmen gegen diejüdische Bevölkerung nicht mit großem Widerstand aus der Mehrheitsgesellschaft würden rechnen müssen.
Viele Jüdinnen und Juden verließen danach Deutschland, wurden zu rechtlosen Geflüchteten, die oft genug der Ermordung dennoch nicht entkamen. Wer blieb, bleiben musste, war fortan vogelfrei, jeder Demütigung, jedem Gewaltakt, sogar der Ermordung schutzlos ausgeliefert.
So stellt das Novemberpogrom einen Wendepunkt bei der Judenverfolgung durch die Nazis dar. Bestärkte sie, ihr Ziel eines „judenreinen“ Deutschlands in Angriff zu nehmen, ein Ziel, das schließlich in dem Plan und seiner weitgehenden Umsetzung gipfelte, das europäische Judentum zu vernichten.
Wir stehen hier, weil wir der Gedemütigten und Ausgeschlossenen, der Vertriebenen,
Verfolgten und Ermordeten gedenken. Wir gedenken auch derer, die das Grauen überlebt haben und von denen wir so viel erfahren und gelernt haben über die Vergangenheit, die nicht vergangen ist.
Heute ist die Gefahr faschistischer Entwicklungen in Europa und anderen Ländern, auch in Deutschland, unübersehbar, so groß wie nie seit 1945.
In Deutschland wurden in den letzten Jahren unzählige Unterkünfte für Geflüchtete angegriffen; die Zahl der Angriffe nimmt derzeit wieder zu. Über 200 Menschen wurden in den letzten 30 Jahren aus rassistischen oder anderen rechten Motiven getötet. Wir sind Zeug:innen terroristischer Mordeund Mordversuche: Ich erinnere an die tödlichen Brandanschläge von Mölln, Solingen, Lübeck, an die Opfer des NSU, an den Angriff auf die Synagoge von Halle, an die Opfer des Anschlags von Hanau … Ich erinnere auch an die vielen Toten im Mittelmeer, die Schutz und eine Zukunft in Europa suchten und die Europa schutz- und rechtlos vor seinen Toren ertrinken lässt.
Ich will das nicht mit dem Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus vergleichen. Aber, so schrieb der italienische Schriftsteller und Überlebende Primo Levi: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen. Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben. Es kann geschehen, überall.“
Es ist auch an uns, solche Entwicklungen zu stoppen. Es kommt auf jede und jeden von uns an. Jeder und jede trägt Verantwortung.