Redebeitrag von Heidemarie Kugler-Weiemann von den Lübecker Stolpersteinen

Als ehemalige Lehrerin an der Geschwister-Prenski-Schule und als Mitglied der Initiative Stolpersteine für Lübeck bin ich seit vielen Jahren schon (seit 1993) auf der Suche nach Spuren der einstigen jüdischen Minderheit in Lübeck.

Ich freue mich, heute an die 19 Menschen aus Lübeck erinnern zu dürfen, die im Juli 1942 mit dem Transport VI / 2 von Lübeck über Hamburg nach Theresienstadt deportiert worden sind.

Hier in Hamburg liegt die Deportationsliste vor, aus der die 19 Namen herausgelesen werden konnten. Anders in Lübeck: Es gibt keine Deportationslisten mehr im Archiv, da diesbezügliche Unterlagen am Ende des Krieges umfänglich vernichtet worden sind. Unsere Recherchen für die Verlegung der Stolpersteine gehen daher von anderen Quellen aus und stützen sich in jedem Einzelfall auf die alten Meldekarten, die sog. Entschädigungsakten und andere Quellen. So haben wir im Laufe der letzten 17 Jahre nach und nach Biografien der nach Theresienstadt deportierten Jüdinnen und Juden erstellen können und Gedenksteine für sie verlegt. Erst vor kurzem habe ich die Namen für den Transport VI / 2 im Juli 1942 in einer Tabelle zusammengestellt und komme auf die dieselben 19 Personen, 14 Frauen und 5 Männer, im Alter zwischen 88 und 45 Jahren. Festgelegt wurde offenbar bereits 1941, wer von der Deportation aus Lübeck nach Riga im Dezember 1941 ausgenommen werden sollte, der angeblichen Evakuierung zum Arbeitseinsatz im Osten.

Für das vorgebliche „jüdische Altersheim“ Theresienstadt wurden einerseits hochbetagte Menschen vorgesehen, andererseits vor allem ältere Menschen mit Vermögen, das zur Bezahlung der Maßnahmen eingezogen werden konnte. Weniger wohlhabende Personen gleichen Alters kamen sehr wohl nach Riga.

Eindeutig belegen lassen sich diese Annahmen anhand Lübecker Quellen aber nicht. Die Sammelstelle in Lübeck für die Deportation nach Theresienstadt war das „Asyl“ der Jüdischen Gemeinde in der St. Annen-Straße 11, das einstige Altersheim der Gemeinde gleich neben der Synagoge. Diese befand sich seit dem Novemberpogrom im Besitz der Stadt und war mit einer neuen Fassade versehen nun zu einer Turnhalle, Schulwerkstätte und Requisitenkammer des Theaters geworden.

Zwei der deportierten Frauen hatten lange schon im Altersheim gelebt, die alleinstehende Emilie Isabella Haas, sie war nun 80 Jahre alt, und die Witwe Recha Saalfeld, geborene Levy, mit ihren 88 Jahren die älteste aus Lübeck auf dem Transport im Juli 1942. Ihr verstorbener Mann hatte zu einer lange schon in Lübeck und zuvor im dänischen Moisling ansässigen Familie gehört. Ihr einziges Kind, der Sohn war im 1. Weltkrieg als Soldat ums Leben gekommen. Die weiteren Angehörigen waren im Dezember 1941 nach Osten abtransportiert worden, und sie wusste nichts über ihren Verbleib.

Im „Asyl“ einquartiert, meist nach der Deportation Richtung Riga, waren weitere 13 Menschen, da sie ihre Wohnungen hatten verlassen müssen. Nur vier kamen noch direkt von ihrem Zuhause aus zur Sammelstelle, begleitet von ihren Angehörigen.

Die jüngste auf dem Transport nach Theresienstadt war mit 45 Jahren Juliane Mansbacher, die als Sozialarbeiterin für die Betreuung der noch in Lübeck befindlichen Jüdinnen und Juden zuständig war. Sie stand ursprünglich auf der Deportationsliste für Riga, wurde dann aber von den Mitarbeitern der Reichsvereinigung ausgetauscht. Aus dem Gespräch mit einer Lübecker Zeitzeugin weiß ich, dass Nathalie Heimann stattdessen nach Riga gegangen ist, damit Juliane Mansbacher bei ihrer hochbetagten Mutter Margarethe Falck bleiben konnte.

Juliane Mansbacher war in Lübeck geboren und aufgewachsen, hatte wie ihre Schwestern das Abitur an der Ernestinenschule gemacht. Ihr Mann Martin Mansbacher war 1939 verstorben; ihren Sohn Peter hatten sie noch gemeinsam im Dezember 1938 auf einen Kindertransport nach England verabschiedet. Ihn wusste sie nun in Kanada, als sie im Juli 1942 mit ihrer 87 jährigen Mutter und der Cousine ihres Mannes Recha Liebenau sowie den anderen Frauen und Männern auf die Reise ins Ungewissen gehen musste. Ihre Nichte Therese Hammerschlag war nach Lübeck gekommen, um sich von Tante und Großmutter zu verabschieden und konnte mit ihnen bis nach Hamburg fahren. Sie berichtete darüber in einer Nachricht an die Tochter von Frieda Dieber:

„Sie werden sich wundern, von einer Fremden Post zu bekommen. Ich bin die Nichte von Frau Mansbacher und bin mit Ihrer Mutter zusammen im Abteil bis Hamburg gefahren. Da möchte ich Ihnen gern erzählen, dass die Reise bis Hamburg besonders gut verlaufen ist. Ihre Mutter war, wie alle andern Damen, recht guter Stimmung. Sie fühlte sich sofort heimisch in dem Kreis von Frau Bröll, Frau Ohmann und meiner Großmutter Frau Falk. Die Damen unterhielten sich gleich von ihren Kindern und Enkeln und zeigten sich Bilder und machten es sich richtig bequem im Zug. Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich gewünscht hätte, dass Sie alle dabei gewesen wären und gesehen hätten, wie guten Mutes alle waren. Und ich hoffe, dass dies ein guter Beginn für die ganze Zeit war. Sollten Sie einmal etwas von dort hören, so wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir davon Mitteilung machen würden.“ Die drei Frauen, die mit Margarethe Falck in einem Abteil gesessen hatten und auf der Postkarte namentlich erwähnt werden, waren Frieda Dieber, Johanna Broell und Betty Ohmann. Vieles hatten sie gemeinsam: Sie waren mit nichtjüdischen Männern verheiratet gewesen und nach deren Tod bzw. durch Scheidung alleinstehende Frauen, die in der Vorstadt St. Jürgen lebten. Ihre erwachsenen Kindern wohnten mit ihren Familien in der Nähe und wurden als „Mischlinge“ verschiedenen Grades drangsaliert.

Eine Nachbarin von Frieda Dieber aus der Bismarckstraße, Erna Gogowsky, führte ein Tagebuch und notierte darin am 18. Juni 1942: „Frau Dieber, die Jüdin von nebenan, muss innerhalb von drei Tagen Lübeck verlassen. Ich sah schon tagsüber, dass dauernd größere und kleinere Mengen Zeug und Möbel abgeholt wurden durch ihre Kinder. Aber darauf war ich wirklich nicht gekommen, dass sie aus Lübeck heraus müsste. Ihre Kinder haben alles versucht, diese Anordnung rückgängig zu machen. Aber vergebens. Bettzeug, Kleidung und 50 Mark darf sie mitnehmen. Sie kommt nach Böhmen in ein Heim, heißt es. Weiter weiß sie nichts. Ist das nicht hart für eine solch alte Frau? Ihr Mann war arisch, alle ihre Kinder sind arisch verheiratet, und doch muss sie weichen. Die Kinder haben angeboten, sie „ohne Lebensmittelmarken“ bei sich aufzunehmen. Auch darauf ist man nicht eingegangen. Die Möbel werden vom Finanzamt beschlagnahmt. In die Wohnung werden wohl Bombengeschädigte eingewiesen.“

Frieda Dieber durfte die Nacht vor dem Abtransport noch bei ihrer einen Tochter verbringen, wo sie einen langen Abschiedbrief an ihre Kinder, Schwiegerkinder und Enkel schrieb.

Auch Johanna Bröll und Betty Ohmann hatten bis zuletzt in ihrer Wohnung bzw. dem eigenen Haus gelebt. Anders das Ehepaar Henry und Grete Ruben: Sie mussten ihr Haus, das sie sich für ihren Ruhestand in Lübeck hatten bauen lassen, schon Monate vorher verlassen, da es vom Deutschen Reich beschlagnahmt wurde.

Henry Ruben war in Lübeck geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur am Johanneum hatte er eine Banklehre in Celle begonnen und war dort im Bankhaus als Mitarbeiter und späterer leitender Direktor geblieben. 1927 war das kinderlose Paar nach Lübeck gezogen, wo sich Henry Ruben in der Israelitischen Gemeinde engagierte wie sein Vater und andere Verwandte vor ihm.

Von den 19 Menschen aus Lübeck hat niemand überlebt. In Theresienstadt verstarben Caroline Bär, Johanna Bröll, Frieda Dieber, Margarethe Falck, Emilie Isabella Haas, Marjanne Häusler, Betty Ohmann, Recha Saalfeld, Grete Ruben und ihr Mann Henry Ruben, Nathan Lambertz, Walter Engel und Abraham Hirsch Frankenthal.

Aus Theresienstadt weiter deportiert in die Todeslager wurden Recha Liebenau nach Maly Trostenez, Henriette Rodmann und Philipp Dilloff nach Treblinka und Frieda Bär, Lina Kesten und Juliane Mansbacher nach Auschwitz. Ihr Sohn Peter Mansbacher erhielt im Dezember 1945 einen Brief aus Prag von Dr. Berthold Simonsohn, der ab 1939 für die Reichsvereinigung im Hamburg gearbeitet hatte. „Ihre Mutter hat sich in Theresienstadt ganz besonders bewährt. Sie hat unzähligen Menschen dort mit ihrer Hilfsbereitschaft und ihrem stets heiteren Wesen geholfen. Wir wohnten lange Zeit in einem Hause. Eine schwere lebensgefährliche Krankheit hat sie erstaunlich schnell überstanden und sich sehr bald erholt. Sie war zuerst als Sekretärin in der Bekleidungsstelle tätig,…, Dann aber ging sie als Bibliothekarin in die Zentralbücherei… Ihre Mutter ist leider am gleichen Tag wie ich, am 19.10.1944, nach Auschwitz deportiert worden und dort am Tage darauf gestorben.“ Erwähnung finden sollten einige weitere Lübeckerinnen und Lübecker.

Der Chemiker Dr. Moritz Neumark war seit 1906 Generaldirektor des Hochofenwerkes und wurde 1934 zum Rücktritt gezwungen. Er zog mit seiner Frau Ida nach Berlin, und das Ehepaar wurde von dort nach Theresienstadt deportiert, wo Moritz Neumark im Februar 1943 verstarb. Ida Neumark, geb. Händler überlebte das Konzentrationslager. In einem Einzeltransport im Juni 1944 kam Frieda Herweg, geborene Salomon nach Theresienstadt und kehrte im Juli 1945 nach Hamburg zu ihrem Sohn zurück. Aber ihre gesundheitlichen Schäden waren so groß, dass sie Ende Oktober 1945 verstarb.

Vorgesehen für die Deportation nach Theresienstadt im Juli 1942 waren auch der Kaufmann Hermann Schild, seine Frau Emma Schild, geborene Hirschfeld und seine Zwillingsschwester Dora Schild. Alle drei verloren ihr Leben im März 1942 beim Bombenangriff in ihrem Haus in der Breiten Straße, wo sich auch das renommierte Bekleidungsgeschäft der Familie „Gebrüder Hirschfeld“ befunden hatte.

Auch Selma Claren, geborene Goldschmidt wurde im März 1942 in der Breiten Straße ausgebombt und fand Unterschlupf in einer Pension in Scharbeutz. Dort überbrachte die Polizei den Evakuierungsbefehl für Theresienstadt, allerdings mit großer Verspätung. In Begleitung ihrer Tochter und eines Sohnes fand sich Selma Claren am 18. Juli 1942 zum angegeben Termin der „Evakuierung nach Theresienstadt“ bei der Gestapo ein. Als sie einem Beamten erklärte, sie habe die sich durch die besonderen Umstände nicht auf den Abtransport vorbereiten können, sei sie von dem Beamten aufgefordert worden, „schleunigst zu verschwinden. Aufgeschoben ist aber nicht aufgehoben“, habe er hinzu gefügt.

Diese gegebene Chance nutzte Selma Claren, tauchte unter und konnte fast zwei Jahre unentdeckt bleiben. Für jeweils kurze Zeit konnte sie bei Freunden und Verwandten in Lübeck, Wuppertal, Düsseldorf, Bremen und Hamburg unterkommen. Als sie im Mai 1944 ihre Garderobe in Lübeck wechseln wollte, wurde sie von der Gestapo verhaftet. Eine Krankenschwester aus der Nachbarschaft soll sie bemerkt und denunziert haben. Nach einigen Tagen im Untersuchungsgefängnis in Lübeck wurde Selma Claren abtransportiert, in einem Einzeltransport gelangte sie über verschiedene Gefängnisse in Neu-Strelitz, Neubrandenburg, Berlin, Görlitz und Dresden schließlich am 31. Mai 1944 in das Konzentrationslager Theresienstadt.

Ein langes Jahr hindurch ertrug die 53Jährige das Elend von Theresienstadt mit Hitze und Kälte, Hunger und Durst. Umgeben von Dreck und Ungeziefer unter erbärmlichsten sanitären Bedingungen, galt es zu überleben, Krankheit, Leid und Sterben andere immer vor Augen und ebenso mit der ständigen Angst, am nächsten Tag aufgerufen zu werden für den Weitertransport nach Auschwitz. Bis Ende Oktober 1944 gingen große Transporte von Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau. Gleichzeitig kamen bis in den April 1945 Transporte in Theresienstadt an. Als das Konzentrationslager am 10. Mai 1945 befreit wurde, war Selma Claren schwer krank und wurde wegen Typhusgefahr bis zum 23. Juni 1945 isoliert untergebracht.

Dann erst kam für sie die Befreiung, und sie konnte zurück kehren, zuerst nach Hamburg zur Cousine Wilma Riemann und deren Familie und dann nach Lübeck zu ihren Kindern. Selma Claren verstarb 86jährig in Lübeck im Jahr 1977. Sie war somit die einzige Lübecker Überlebende von Theresienstadt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert