Brief an meine Großtante Johanna: „Liebe Johanna!“
Kurz vor meinem 11. Geburtstag erfuhr ich, dass sich mein Elternhaus gar nicht weit weg von einem ehemaligen Konzentrationslager befand. Für mich war die Essener Straße in Hamburg-Langenhorn bisher immer nur Spielstraße gewesen, doch jetzt verlor ich meinen kindlichen Blick und realisierte, dass der NS-Terror auch hier stattgefunden hatte, also unmittelbar dort, wo ich meinen Alltag verbrachte. Eruptiv brachen Fragen aus mir hervor, die ich natürlich auch an meine Eltern richtete, doch mein Vater verweigerte jedwedes Gespräch über das NS-Thema, so dass ich als Informationsquelle nur die klassische Fachliteratur zur Verfügung hatte. Schlimm war, dass er einen Redeboykott über mich verhängte und mir es nicht erlaubte, in seiner Gegenwart das NS-Thema anzuschneiden. Dadurch wurde unsere Beziehung langfristig eingetrübt, was nicht bedeuten soll, dass ich ihn nicht geliebt hätte. Mich beschäftigte danach lange die Frage, warum mein Vater nicht bereit war, über das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte mit mir zu reden. Er persönlich hatte gewiss nichts zu verbergen, denn er gehörte dem Jahrgang 1935 an und konnte deshalb kein Täter gewesen sein. Nun fragte ich mich, ob es andere Familienmitglieder gab, die Schuld auf sich geladen hatten. Ende der 70er Jahre war ich noch nicht so weit, als dass ich eigenständig meinen Stammbaum hätte recherchieren können, aber ich wartete immer auf den richtigen Moment, um einen Brunnen in die Vergangenheit zu graben.
Im April 2019 wollte ich unbedingt mehr über die komplizierte Familiengeschichte meiner Mutter in Erfahrung bringen. Da ich selbst krank war, übernahm meine Frau die Recherchen in verschiedenen Archiven für mich. Noch bevor das aktuelle Arbeitsfeld ganz bestellt war, machte ich jedoch einen Schwenk zu den Vorfahren meines Vaters; wollte ich doch wissen, ob das Unbehagen meiner Kindheit gerechtfertigt war. Meine Frau stürzte sich ein halbes Jahr unter meiner Anleitung in alle verfügbaren Dokumente und stieß dabei auf Namen und Sachverhalte, von denen ich bisher noch nichts gehört hatte.
Liebe Johanna, auch Dein Name fiel in diesem Zusammenhang das erste Mal. Dass es da jemanden gab, von dessen Existenz ich nichts wusste, konnte ich nicht verstehen. Auch die Befragung mehrerer älterer Mitglieder meiner Familie brachte mich in dieser Angelegenheit nicht weiter. Meinen Vater selbst konnte ich leider nicht mehr befragen, denn er ist schon vor zweieinhalb Jahrzehnten gestorben. Meiner Frau und mir blieb also nichts anderes übrig, als Texte zum Sprechen zu bringen. Als Hauptquelle dienten uns die Dokumente Deiner Wiedergutmachungsprozesse gegen die Hansestadt Hamburg. Du bist die Tante meines Vaters und damit meine Großtante, denn Du warst von 1932 bis 1935 mit Hans (Geburtsname: Johannes Gerlakus), dem Bruder meines Großvaters Gerhard, verheiratet. Dass wir über Dich so wenig wissen, hängt auch damit zusammen, dass meine Familie in der damaligen Zeit nach heftigen Streitigkeiten zersplittert war. Hans und Gerhard wandten sich von ihrem Vater Johann Tammo Marinesse, der im westfälischen Rheine einen Holzhandel betrieb, ab und zogen in der ersten Hälfte der 1920er Jahre nach Hamburg, wo sie zwar engen Kontakt hielten, aber beruflich unterschiedliche Wege gingen. Hans, der genau wie Gerhard nur ein gewöhnlicher Lagerarbeiter war, wurde in der Hansestadt zu einem angesehenen Immobilienmakler, der einigen Erfolg aufzuweisen hatte und auf großem Fuß lebte. In ihn hast Du Dich wohl damals verliebt. Dass er Christ war und Du Jüdin, spielte in Eurer Beziehung wahrscheinlich keine Rolle, denn Du warst stark assimiliert und ein fester Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft. Wie Hans mit seinem Christentum umging, wissen wir leider nicht. Für Dich war die Ehe mit Hans Deine zweite Ehe. Dein erster Ehemann hieß Albert Meyer und arbeitete als Artist. Hans konnte Dir offenbar die Art von Bürgerlichkeit bieten, nach der Du Dich sehntest. Zur Hochzeit zogt Ihr in eine große Wohnung in der Borgfelder Straße (Oben Borgfelde) 26. Hans kaufte für Euch teure Möbel, die Eurem Sein etwas Repräsentatives gaben. Deine Familiengeschichte ist unendlich reich und vielschichtig, sie kann an dieser Stelle aber nur in knappster Form zusammengefasst werden. Deine Mutter hieß Betty und war eine geborene Gumpel. Sie hatte noch drei Schwestern und zwei Brüder. Ihre Schwester Olga war mit einem der Wolf-Brüder verheiratet, die sich erst als Volkssänger Popularität verschafften und dann das Hamburger Operettenhaus erwarben. Deine Eltern lebten für kurze Zeit in Berlin, wo Du im Jahr 1897 geboren wurdest, um dann aber wieder in die Heimatstadt Deiner Mutter zurückzukehren. Dein Vater Carl verdiente als Buchhalter genug Geld, um für ein Auskommen der Familie zu sorgen. Um die Ehe Deiner Eltern stand es nicht gut. Sie trennten sich schließlich und gingen getrennte Wege. Deine Mutter kümmerte sich um Dich und um Deine beiden Schwestern, während sich Dein Vater ein neues Leben aufbaute und sich in den 20er Jahren in Königsberg niederließ. Um Euch eine gute Ausbildung zu ermöglichen, arbeitete Betty als Bedienung in einem Restaurant auf St. Pauli. Du besuchtest die Höhere Töchterschule in der Karolinenstraße. Über Dein Arbeitsleben wissen wir wenig, sicher ist, dass Du in der Zeit, in der Du mit Hans verheiratet warst, nicht berufstätig warst. Die Ehe mit einem Christen schützte Dich vor den schlimmsten Anfeindungen der Nazidiktatur. Nach allem, was wir wissen, war Deine Ehe äußerst glücklich. Mit den anderen Mitgliedern der Familie Marinesse dürftet Ihr engen Umgang gehabt haben.
Dann aber geschah etwas Furchtbares: Hans nahm sich am 15. Januar 1935, aus Gründen, die wir nicht genau kennen, das Leben. Möglicherweise hatte er es mit seiner Spielsucht übertrieben und Schulden gemacht, die er nicht zurückzahlen konnte. Dein Leben änderte sich nun von einem auf den anderen Tag. Die Familie Marinesse rückte von Dir ab, ohne dass wir wissen, wieso sie die engen Bande kappte. Es kann sein, dass sie sich dem Zeitgeist anpasste, es kann aber auch sein, dass Streitigkeiten ausbrachen, denen kein antisemitisches Motiv zugrunde lag. Entscheidend ist, dass Du Dich, liebe Johanna, nun verstärkt wieder Deiner Familie zugewandt hast und nur noch in einem jüdischen Milieu verkehrtest. In der zweiten Hälfte der 30er Jahre legte Dir der NS-Staat immer mehr Bürden auf die Schultern. So wurde Dein Pass mit einem großen „J“ versehen. Bestimmt hast Du Dich nun auch verstärkt um Deine Mutter gekümmert, die erst ihre Stellung verlor und dann auch noch aus ihrer Wohnung geworfen wurde. (Dass Du eine enge Beziehung zu ihr gehabt hast, kann man unter anderem daran sehen, dass sie als deine Trauzeugin im Jahr 1932 aufgetreten war.) Da Du selbst bei C.&A. Brenninkmeyer einen kleinen Job als Verkäuferin erhieltest, konntest Du Dich mit Mühe und Not durchschlagen. Einige Möbelstücke, die Du Dir mit Hans angeschafft hattest, wurden verkauft, um zusätzlich etwas Geld zu haben. Schließlich verlorst Du Deine große Wohnung und zogst in eine kleinere, die sich in der Brennerstrasse 35 in St. Georg befand. Dir bedeutete es in dieser Zeit unendlich viel, dass Du trotz Deiner jüdischen Herkunft eine Stellung als Verkäuferin bei Brenninkmeyer inne hattest. Es gelang Dir sogar noch im Jahr 1939 eine unbefristete Stellung in dem Modegeschäft zu erhalten. Doch dann riss Dein Glücksfaden. Am 30. Januar 1939 erschienen im Morgengrauen Gestapoleute bei Dir und verbrachten Dich in das KZ Fuhlsbüttel. Als Grund für die KZ-Einweisung nannte man Deine Ehe mit Hans. Dazu muss man wissen, dass das Zusammenleben von Juden und Christen in der Nazizeit als „Blutschande“ galt und schwer bestraft wurde. Was folgte, war ein Akt der Barbarei. Du wurdest in das KZ eingewiesen und musstest dort verschiedene Arbeiten verrichten, die meistens sinnleer und erniedrigend waren. In Deinen Wiedergutmachungsunterlagen steht, dass Du Hakenkreuzbinden auf Uniformen nähen musstest. Als Du einmal aufbegehrtest, schlugen Dir Wächter so schwer ins Gesicht, dass Du einen Augenschaden davongetragen hast. Man brachte Dich zwar auf die Krankenstation, konnte aber die langfristige Erblindung auf dem einen Auge nicht verhindern. Erst Ende April erreichte Deine Schwester Claire schließlich Deine Freilassung aus dem KZ. Als Gegenleistung dafür musstest Du versprechen, Dein Heimatland für immer zu verlassen. Deinen Besitz eigneten sich die Machthaber an. Alles, was Dir noch blieb, gabst Du Deiner Mutter. Sie nahm die verbliebenen Möbel mit in das sogenannte „Judenhaus“, wo sie mittlerweile lebte. In wenigen Wochen regeltest Du Deinen Weggang aus Deutschland. Deine Mutter konntest Du nicht mitnehmen, weil sie im Gegensatz zu Dir keine Zusage für die Aufnahme in einem Exilland erhalten hatte. Du selbst gingst nun nach England ins Exil. Erst lebtest Du 12 Monate auf der Isle of Man, wo Du als Haushälterin für Dein Auskommen sorgtest. Der Kontakt nach Deutschland während des Krieges riss ab, so dass Du weder wusstest, wie es um Deine Eltern bestellt war noch wie es Deiner Schwester ging. Erst nach dem Krieg erfuhrst Du, dass Deine Mutter am 15. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde und dort am 1. Dezember 1942 starb. Dein Vater wurde von den Nationalsozialisten in Frankreich aufgegriffen und von dort am 10. Februar 1943 direkt nach Auschwitz gebracht. Der Tag, an dem er in dem Vernichtungslager eintraf, ist auch sein Todestag. Aufgrund seines Alters – er war 67 Jahre alt – muss man annehmen, dass er sofort vergast wurde. Deine Schwester überlebte die Luftangriffe der Alliierten im Jahre 1943 nicht. Sie starb genau wie ihr Ehemann bei der Operation Gomorrha. Deine ganze Kernfamilie wurde durch die Nazibarbarei ausgelöscht. So starb Dein Onkel Siegfried Liebreich ebenfalls in Theresienstadt. Mit all diesen Fakten wurdest Du nach dem Ende des 2. Weltkrieges konfrontiert. Du lebtest in jener Zeit im Londoner Stadtteil Brent. Der KZ-Aufenthalt hat schwere seelische und körperliche Schäden bei Dir hervorgerufen, so dass Du nur noch in eingeschränkter Form einem geregelten Arbeitsleben nachgehen konntest. Du hattest Mühe, für Dein Auskommen zu sorgen und lebtest an der Armutsgrenze. Dennoch hast Du zunächst darauf verzichtet, einen Wiedergutmachungsprozess in der Bundesrepublik Deutschland anzustreben. Es gab jedoch auch Positives zu berichten: Im Januar 1945 heiratetest Du Heinrich Kohn. Leider wissen wir über Deinen dritten Ehemann gar nichts. Er starb früh, und Deine finanzielle Situation war immer noch schlecht. 1954 war Deine Verfassung offenbar so schlecht, dass Du Dich doch entschiedst, ein Gerichtsverfahren gegen die Hansestadt Hamburg anzustreben. Dabei ging es um Ausgleichszahlungen für Gegenstände, die man Dir genommen hatte, und natürlich das erlittene Leid. Ärztliche Gutachten wurden erstellt, die Dein Anwalt dem Gericht vorlegte. Bis in die 60er Jahre hinein hast Du wacker für Dein Recht gestritten. Die Summe, die man Dir zusprach, wurde als Notgroschen zurückgelegt. Du gewannst einen Großteil Deiner Prozesse. In Deutschland vertrat Dich Dein Anwalt, Du selbst hast das Land nicht mehr betreten. Zu der Familie Marinesse gab es keinen Kontakt mehr. 1972 starbst Du in Deinem Exilland.
Dass in meiner Familie nicht über Dich gesprochen wurde, hatte möglicherweise mehrere Ursachen, die sich wechselseitig durchdrangen und eine Verbindung eingingen. So war der Freitod von Hans ein Tabuthema: Man bringt sich in meiner Familie nicht um, sondern setzt den Kampf gegen alle Widrigkeiten unverdrossen fort. Diejenigen, die ihr Leben wegwerfen, verdienen es nicht, dass man sich an sie erinnert. Hans ist im Laufe der Jahre zu einer Lücke im Stammbaum geworden. Keiner weiß mehr etwas Näheres über ihn zu berichten. Mit ihm verschwandest auch Du, liebe Johanna, in dieser Lücke. Was meine Familie anbelangt, habe ich also einen doppelten Verlust erlitten: Ein Gang ins Archiv war nötig, um Euch wieder ins Bewusstsein zu holen. Mein Vater dürfte Johannas‘ und Hans‘ Schicksal gekannt haben, denn er wurde von seiner Mutter in stärkerem Maß als seine beiden Schwestern ins Vertrauen gezogen. Mit mir sprach meine Großmutter weder über ihren Schwager noch über ihre Schwägerin. Wenn sie zurückschaute, tauchte in ihrer Erinnerung nur die mir bekannte Kernfamilie auf. Dabei hatten sie und ihr Mann – zumindest in der Zeit von 1932 bis 1935 – Regen Umgang mit Johanna und Hans. So war Hans zum Beispiel Gerhards Trauzeuge, als er 1934 Elisabeth Schlamp heiratete. Dass mein Vater mit mir nicht sprach, hatte zum einen damit zu tun, dass er das Thema Selbstmord nicht erörtern wollte, zum anderen war es ihm wichtig, dass Gerhard eine weiße Weste behielt. Die Tatsache, dass Gerhard nach dem Tod seines Bruders von seiner Schwägerin abrückte, hätte ihn in ein ungutes Licht stellen können. Das galt es zu verhindern. Leichter war es für meinen Vater, sich ins Schweigen zu flüchten. Damit entspricht sein Verhalten dem Zeitgeist der Nachkriegszeit.
Dich, liebe Johanna, lerne ich jetzt ganz neu kennen. Du bietest mir die Möglichkeit, meine Familie neu zu spiegeln. Ich möchte mehr über Dich und Dein Leben wissen und mache mich deshalb auf die Suche nach Dir und Deinen Spuren. Du sollst nie wieder vergessen werden. Dieser Text soll Dir eine Stimme geben.
© Jan Gerhard Marinesse, 09.11.2022