Vielleicht erinnern Sie sich: Wir hatten zum 8. Mai 2020 zwei Plakate an die Außenwände ihres Hauses geklebt und weiße Spuren auf den Gehweg gemalt. Wir wollten am 8. Mai 2020 anlässlich des 75. Jahrestag der Befreiung Deutschlands von der NS-Herrschaft ein Bild vermitteln, an dem unsere Eltern oder deren Eltern befreit wurden – am Beispiel der Opfer. Die Spuren hatten wir vor 15 Häusern rund um die Weidenallee gemalt, so dass ein Bild der “Spuren-Suche” vermittelt werden sollte.
Einer von ihnen war Arthur Prager. Er wurde am 24. Februar 1880 in Oslo geboren und war mit Alina Daemel verheiratet. Nach den Nürnberger Gesetzen aus dem Jahr 1935 bildeten Arthur und Alina Prager eine „nicht-privilegierte“ Mischehe; Kinder hatten sie nicht. Spätestens seit 1907 betrieb er eine Drogerie in der Bellealliancestraße 68, gehörte also fast noch zur ersten Generation der Geschäftsleute, die sich in diesem an der Grenze zu Altona damals neu entstandenen Hamburger Stadtteil niedergelassen hatten.
Der Boykott jüdischer Geschäfte hatte für das Ehepaar Prager existenzielle Auswirkungen, die 1938 zu einer Verschuldung geführt hatten. Als die Hamburger Behörde am 5. Dezember 1938 das Geschäft gemäß der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben vom 12.11.1938“ schloss, hatte sich bei Arthur und Alina Prager bereits ein Mietrückstand von mehreren hundert RM angehäuft. So wie ihm ging es Tausenden von jüdischen Menschen in Hamburg, die ihre Immobilien oder Unternehmen an „Arierer“ verkaufen mussten oder deren Unternehmen geschlossen wurden.
Vermutlich 1939 nach dem Umzug starb Alina Prager, womit für Arthur Prager der Schutz der „Mischehe“ entfiel. Er musste in das „Judenhaus“ in der Heinrich-Barth-Straße 8 ziehen, wo er den Deportationsbefehl für den 8. November 1941 nach Minsk erhielt. Dort verliert sich seine Spur.
Ob Bellealliancestraße 68, Bellealliancestraße 66 oder Bellealliancestraße 60
Ivan Andrade hatte sein Geschäft in der Bellealliancestraße 66. Er war am 9. November 1938 in der so genannten „Progromnacht“ inhaftiert worden, ins KZ überstellt und dort misshandelt. In dieser Zeit wurde sein Unternehmen geschlossen. Rechtlos verkaufte er es im Februar 1939 an den „Arierer“ Riebensahl. Diese „Arisierung“ finden Sie in den umliegenden Straßenzügen immer wieder. So wohnte Heimann Freundlich in der Bellealliancestraße 60, hatte ein Geschäft in der Agathenstraße 7 (geht ab von der Weidenallee). Auch sein Leben vollzog sich wie das von Artur Prager. Einen Monat lebte das Ehepaar noch in der Geschäftswohnung. Am 1. Februar 1939 bezogen sie zwei Zimmer zur Untermiete in der Wohnung des befreundeten Kaufmanns Ewald W. in der Osterstraße 20. Finanzielle Rücklagen besaßen sie nicht mehr, hatten Mietschulden von insgesamt 900 RM. Sie mussten Fürsorgeunterstützung beantragen.
In jeder Straße um die Bellealliancestraße finden Sie NS-Opfer
Egal, wo Sie sich rund um die Bellealliancestraße bewegen, in jeder Straße und vor vielen Häusern finden Sie Stolpersteine, die an NS-Opfer erinnern. Es kommen immer weitere dazu, so kürzlich ein Stein, der an Ida Silberberg erinnert, die in der Vereinsstraße 54 gelebt hatte. Es gibt noch mehr NS-Opfer in Ihren Straßenzügen als es Stolpersteine gibt. Die Menschen waren Widerstandskämpfer, ob Kommunisten oder Sozialdemokraten (Vereinsstraße 7, 89, 59, Amandastraße 41). Sie wurden ermordet, weil sie krank (Fettstraße 1) oder homosexuell (Vereinsstraße 39, Lindenallee 44) waren. Massenhaft wurden jüdische Menschen erst gemobbt, dann verfolgt, enteignet, in den Tod getrieben und im KZ ermordet (Vereinsstraße 7, Lindenallee 44, 24-30, Amandastraße 78, Altonaer Straße 63, Magaretenstraße 40, Bellealliancestraße 27). Es gab hunderte Zwangsarbeiter in der Nähe ihres heutigen Wohngebietes, die in Lager festgehalten und tagsüber zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden (Schulterblatt/Eimsbütteler Chaussee, Altonaer Straße). Ein gleiches Bild zeigt sich rund um die Weidenallee oder dem Schulterblatt.